In einer Zeit, als der rote Pass noch seine Bedeutung hatte...

InterRail ist definitiv nichts für Anfänger. Und schon gar nichts für Freunde der Heimat, strebsame Schüler und sonstige Querdenker. Was waren das doch für Zeiten, als wir bepackt mit einem farbigen Tramper, 250.– in Traveller Cheques und natürlich dem heissgeliebten roten Pass stolz und voller Erwartungen im Hauptbahnhof den Zug mit dem exotischsten Zielbahnhof bestiegen. Paris, Wien, Neapel, Amsterdam, Stockholm oder Barcelona.

Wer nicht gerade reiselustige Eltern hatte oder einen Verwandten in einer dieser Weltstädte kennt, bekam feuchte Hosen und der Adrenalinspiegel stieg, als der Kondukteur mürrisch die InterRail- Fahrkarte knipste. Meistens in kleinen Gruppen von drei bis vier Kumpels – anders geschlechtliche Reisebegleiterinnen mussten vorzugsweise erst nach der Schweizer Grenze dazustossen – fieberte man den ersten grossen Ferien ohne langweilige Bungalows und Appartementswohnungen in Rimini oder Kreta entgegen.

Kaum passierte man die Schweizer Grenze, entflammten erste Zigaretten, wurden Bierdosen entjungfert und die Stimmung stieg. Manch einer erlebte seine erste InterRail – Nacht auf einer schäbigen DB-Toilette (oder gar RENFE oder DSB oder aber sogar B?).

Und nur damit die Ferien auch zum Abenteuer wurden (nicht etwa des fehlenden Geldes wegen), nächtigte man in den schäbigsten Jugendherbergen, wechselte den Zug in Wien nach Prag oder Budapest, was bekanntlich meistens schon an der Grenze endete und genoss die Fahrt inmitten von Bierdosen, Vodkaflaschen, gebrochenem Englisch, ersten Joint-Drehversuchen und mindestens 15 Personen in einem Sechserabteil. Desöftern bestieg man um 18 Uhr den Nachtzug und landete 24 Stunden später und 2000 km weiter irgendwo am anderen Ende der Europakarte.

Mit einem bisschen Glück und den nötigen Alkoholwerten, erlebte der InterRailer zwischendurch eine Nacht mit einer Person aus einem fremden Land. Es durfte nach Herzenslust gefummelt und geknutscht werden, schliesslich musste man ja auch niemandem Rechenschaft ablegen. Und wer weiss denn schon, wo Bad Homburg oder Pilsen liegen?

Ach ja, und der Louvre in Hamburg war auch recht amüsant, geschweige denn vom Petersdom in Dublin, und den Ramblas in Stockholm.

Was blieb, waren die unzähligen Stempel im roten Pass, unzählige Adressen aus aller Welt, die man selbstverständlich unzählige Jahre aufbewahrte, nach dem Motto: man weiss ja nie, wo es einem hin verschlägt, und mit der nächsten Matheprobe im Nacken...

Apropos Ferien. Ich habe mir den neuesten DuMont Kunstreiseführer und sämtliche Landkarten mit eingezeichneten sehenswerten Routen per Internet erstanden. Schliesslich darf ich auf Sizilien keine Sehenswürdigkeit verpassen.

Marc Aebersold